Professor Dr. Heinz Thoma, der Gründungsdirektor des IZEA, ist verstorben. Ein Nachruf von Daniel Fulda
Prof. Dr. Heinz Thoma (29.12.1944 – 27.11.2022)
Foto: Norbert Kaltwaßer
An der Aufklärung gearbeitet hat er bis zuletzt. Erst vor wenigen Wochen erschien seine Übersetzung der bahnbrechenden Studie Michel Delons, des großen Pariser Kollegen und Freundes, zum Energie-Diskurs des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Dass er es trotz hartnäckiger Krankheit vermochte, diese Arbeit zu Ende zu führen, hat ihn noch einmal mit Zufriedenheit, ja Freude und Stolz erfüllt. Am 27. November 2022 jedoch ist Heinz Thoma verstorben.
Die Aufklärung war bei weitem nicht sein einziges, wohl aber sein Lieblings- und Lebensthema. Denn Aufklärung begriff Heinz Thoma nicht bloß als historisches Phänomen. Ihr universelles Freiheits- und Glücksversprechen verstand er vielmehr als Maßstab, an dem sich die ganze Moderne messen lassen müsse, auch unsere Gegenwart. Was aus den Impulsen der Aufklärung wurde bzw. wie mit ihr umgegangen wurde und wird, lautete daher seine typische Fragestellung. Das gilt bereits für die bei Erich Köhler in Freiburg verfasste Dissertation von 1976. Unter dem Titel Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich rekonstruiert sie die Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichtsschreibung des langen 19. Jahrhunderts als Paradefall eines Zurückbleibens der gesellschaftlichen Praxis hinter den emanzipatorischen Entwürfen der Aufklärer. Der kanonische Karriereweg eines westdeutschen Romanisten führte Heinz Thoma dann zunächst allerdings weg von der Aufklärung, zum einen zur Versdichtung der Restaurationszeit (darüber hat er sich 1984 in Wuppertal habilitiert), zum anderen zur italienischen Literatur und besonders Lyrik, was ihm 1989 die Professur für Italienische Literatur an der Universität Osnabrück eintrug.
Der 1993 folgende Ruf nach Halle galt aber wieder dem Aufklärungskenner Thoma. Denn hier war sowohl ein Institut für Romanistik neu mit aufzubauen als auch das Forschungszentrum zur Europäischen Aufklärung wieder flottzumachen. Für ein solches als Begegnungsstätte west- und östlicher Wissenschaftler gedachtes Zentrum hatte sich der hallische Romanist Ulrich Ricken bereits in der späten DDR-Zeit erfolgreich eingesetzt, doch war es, 1990 gegründet, rasch in den allfälligen Umstrukturierungsstrudel geraten. Heinz Thoma gelang es zusammen mit nur einer Handvoll weiterer Neuberufener sowie einem kleinen Mitarbeiterstamm aus Ost und West, das als Interdisziplinäres Zentrum der Universität neukonstituierte IZEA zu einem mit akademischem Leben erfüllten Haus auszugestalten. Harte Aufbauarbeit war das in einem ganz handfesten Sinne, denn das vorgesehene Gebäude, die ‚Rote Schule‘ auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen, war allererst zu renovieren und eine Bibliothek musste zusammengestellt werden.
Am Ende seiner fünfjährigen Amtszeit war, mit finanzieller Unterstützung der Volkswagenstiftung, beides ebenso vollbracht wie das erste große Drittmittelverbundprojekt bewilligt: die zusammen mit Jörn Garber konzipierte DFG-Forschergruppe Selbstaufklärung der Aufklärung. Individual-, Gesellschafts- und Menschheitsentwürfe in der anthropologischen Wende der Spätaufklärung. Die Gründung der Buchreihe Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung im renommierten Niemeyer-Verlag (heute: de Gruyter), die nach wie vor das Publikationsflaggschiff des IZEA bildet, und vieles weitere kamen hinzu. Dass diese Erfolge nichts weniger als selbstverständlich waren, mag man daran ablesen, dass dem IZEA damit gelang, was der weit besser ausgestatteten Nachbarinstitution in Potsdam versagt blieb: die langfristige Etablierung als die Forschungsstätte zur Aufklärung, zentral in Deutschland und mit weltweiter Ausstrahlung.
Mit dem Forschergruppenthema Selbstaufklärung der Aufklärung stellte Heinz Thoma ‚seine‘ Frage nach den Diskrepanzen zwischen dem, was die Aufklärung bewirken wollte, und ihrer Realität auf neue Weise, nun nicht auf ihre Wirkungsgeschichte, sondern auf ihr Selbstverständnis bezogen. Diderot, der ihm liebste Aufklärer, war dafür ein perfekt passender Untersuchungsgegenstand seines eigenen Teilprojekts. Als die von ihm geleitete Gruppe 1998 ihre Arbeit aufnahm, übergab er die Geschäftsführung des IZEA an die Historikerin Monika Neugebauer-Wölk.
Sechs Jahre später, als die Forschergruppe die Maximalförderdauer erreicht hatte, zeichneten sich am Horizont dann schon die nächsten, noch größeren Aufgaben ab: die Bildung des Landesforschungsschwerpunktes Aufklärung – Religion – Wissen und dessen Teilnahme am Bundesexzellenzwettbewerb. Der gemeinschaftliche Antrag mit den Goethezeitforschern aus Jena führte 2007 immerhin in die Endausscheidungsrunde. Heinz Thoma oblag dabei die Leitung des hallischen Teils des Laboratorium Aufklärung getauften Clusters, eine Aufgabe, für die ihn seine Fähigkeit, in großen Linien zu denken und Einzelbefunde in Beziehung zu setzen, geradezu prädestinierte. Denn so genau er auf die jeweiligen Phänomene schaute, so selbstverständlich war es ihm, diese als Probleme oder Belege in Argumentationsketten von großer Reichweite und Systematik zu verstehen. Sowohl Philologe zu sein als auch sich als Geschichts- und Gesellschaftsdenker zu verstehen zeichnete ihn wie wenig andere aus.
Ehrungen wie die Wahl in die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig im Jahre 1997 oder die Festschrift zum 60. Geburtstag waren die konsequente Folge. Im IZEA blieb Heinz Thoma weit über seine 2010 erfolgte Emeritierung hinaus ein anregend-herausfordernder Kollege mit strategischem Weitblick. Die ihm eigene Entschiedenheit hat das Haus erheblich vorangebracht, wenngleich er seinen scharfen Blick für Stärken und Schwächen nicht immer wohlwollend einsetzte. Bis Ende 2019 gehörte er dem Direktorium an.
Nach der Emeritierung konnte er das seit langem vorbereitete Handbuch Europäische Aufklärung endlich abschließen. 2015 bei Metzler von ihm herausgegeben, stellt es ein in deutscher Sprache konkurrenzloses Referenzwerk dar. 2019 erschien in den Kleinen Schriften des IZEA seine letzte Monographie Ende einer Epoche? Zu Geschichte und Kritik der Bürgerlichen Formation seit der Aufklärung. Wie schon der Titel erkennen lässt, trieb ihn auch mehr als vier Jahrzehnte nach seinem ersten Buch noch die Frage nach der Zukunft der Aufklärung um, und dies auf einer den 68er ausweisenden politischen Grundlage. So hatte er die Übersiedlung vom tiefen Westen nach Halle zwar als eine Herausforderung seiner Selbstkonsistenz erlebt, sah er sich hier doch mit der katastrophalen Praxis des Marxismus konfrontiert, dem er theoretisch selbst zuneigte. Doch wurde er bis zuletzt nicht müde zu kritisieren, dass die modernen westlichen Gesellschaften bei weitem nicht so aufklärt seien, wie sie glauben. In der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang – so seine Diagnose; demselben Thema war sein Abschiedskolloquium im IZEA gewidmet – sah er die Aufklärung vielmehr an ihr Ende kommen. Wie damit nur angedeutet werden kann, bewegte sich Heinz Thomas Denken in einem stark ausgeprägten Spannungsfeld von prinzipieller Aufklärungsemphase und ebenso grundsätzlicher Kritik an der von der Aufklärung angetriebenen Geschichte. Andere würden aus der von ihm immer wieder neu bedachten Diskrepanz zwischen aufklärerischen Intentionen und Ergebnissen womöglich resignative Schlüsse ziehen. Gut, dass er das nicht getan hat, sondern mit niemals nachlassender Leidenschaft darum rang, jene, d.h. unsere Problemlage zu durchdringen.
Heinz Thoma hat sich um die Aufklärungsforschung und besonders um das IZEA herausragend verdient gemacht. Wir trauern um einen hochgeachteten Kollegen und werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.