Zwischen Allgewalt und Ohnmacht: Adeliges Schreiben im Venedig des 18. Jahrhunderts
Projektleitung: Prof. Dr. Robert Fajen
Projektzeit: laufend
Im 18. Jahrhundert erlebte die Republik Venedig eine letzte kulturelle Blütezeit, bevor sie 1797 ihre Unabhängigkeit verlor. In dieser Phase des Wandels nahm das Patriziat, von dem in der Stadt und im Staat alle Macht ausging, in einem viel stärkeren Maße am literarischen Leben Venedigs teil als bislang angenommen.
Projektbeschreibung
Das Forschungsprojekt fokussiert einen Aspekt, der in meinem Buch Die Verwandlung der Stadt. Venedig und die Literatur im 18. Jahrhundert (Paderborn: Fink, 2013) bereits eine wichtige Rolle spielte, jedoch nicht systematisch entwickelt werden konnte. In dieser Publikation wurde u. a. dargelegt, dass das venezianische Patriziat die literarischen Entwicklungen der Lagunenstadt im Zeitalter der Aufklärung weitaus stärker beeinflusste als bislang angenommen. Alle Themen, die im 18. Jahrhundert im 'Text' der venezianischen Selbstbeschreibung diskutiert wurden, hingen unmittelbar mit den gesellschaftlichen und kulturellen Transformationen zusammen, welche die Homogenität und das Selbstverständnis der alten Führungsschicht der Stadt in Frage stellten: Im Wesentlichen sind dies die Verarmung weiter Teile des Adels, die wachsende Beschränkung der politischen Optionen der Republik, die Veränderung der Liebessemantik und des Heiratsverhaltens, die neue Rolle der adeligen Frau sowie die Rezeption moderner 'aufklärerischer' Ideen.
Die Analyse der venezianischen Literatur im urbanen Kontext zeigte darüber hinaus, dass der venezianische Adel selbst in hohem Maße literarisch produktiv war. So stammt der ungewöhnlichste und originellste Roman der italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts, La mia istoria ovvero Memorie del Signor Tommasino, aus der Feder eines venezianischen Patriziers: Francesco Gritti (1740-1811).
Neben Gritti betätigten sich eine Reihe anderer Adeliger als (dilettierende) Lyriker, Dramatiker, Historiker und Kunsttheoretiker, etwa Giorgio Baffo, Angelo Maria Barbaro, Marco Foscarini, Pietro Gradenigo, Andrea Memmo, Girolamo Antonio Morelli und Marc'Antonio Zorzi. Das Korpus dieser Literatur ist indessen so umfangreich, dass es im Rahmen der Habilitationsschrift nur ansatzweise genauer betrachtet werden konnte. Ziel des Forschungsprojektes ist es daher, einen systematischen Überblick über die Werke der schriftstellerisch tätigen Patrizier zu gewinnen, sie für weitere Forschungen zu erschließen und hinsichtlich ihrer Formen und Funktionen im literarischen Kontext der Zeit zu analysieren.
2020 habe ich gemeinsam mit Barbara Kuhn (Eichstätt) einen Sammelband mit dem Titel La città dell’occhio. Dimensioni del visivo nella letteratura e pittura veneziane del Settecento / Die Stadt des Auges. Dimensionen des Visuellen in der venezianischen Malerei und Literatur des 18. Jahrhunderts publiziert. Darin enthalten ist auch mein Beitrag „Goldoni e il teatro delle spie“, der die Praxis einer allgegenwärtigen staatlichen (und folglich von Patriziern veranlassten) Beobachtung, Überwachung und Kontrolle in literarischen Texten der 1750er und 1760er Jahre näher beleuchtet.
Geplant ist der Antrag auf eine DFG-Sachbeihilfe zum Thema „Verborgene Kämpfe: Carlo Goldoni, Pietro Chiari und das venezianische Patriziat“ (Arbeitstitel).
In diesem Projekt, das einen Seitenaspekt des oben skizzierten Themas fokussiert und im Rahmen einer Promotion bearbeitet werden soll, geht es um den berühmten Theaterstreit zwischen den beiden Komödienreformern Carlo Goldoni und Pietro Chiari. Anders als in der bisherigen Forschung soll dabei insbesondere der gesellschaftliche und politische Kontext, in dem diese Rivalität ausgetragen wurde, genauer betrachtet werden.
Dabei gehe ich von den folgenden Überlegungen aus: Weil Parteiungen im venezianischen Patriziat ein Tabu sind, Konflikte und Ungleichheit aber um 1750 in der Republik immer schärfer zu Tage treten, dient der Streit zwischen den Goldonisti und Chiaristi als eine Art ‚verborgener Arena‘, um diese Differenzen auszuagieren und zu verhandeln. Zugespitzt formuliert: Der faktionale Diskurs des Literaturstreits, an dem sich die ganze Stadt beteiligt, kommuniziert den faktionalen Diskurs hinter den Mauern des Dogenpalastes, den es offiziell nicht geben darf und für den es eigentlich keine Form der Repräsentation geben kann. Der Große Rat der Stadt, dem alle männlichen Patrizier angehören, ist im 18. Jahrhundert ebenso wie alle anderen Räte der Republik ein Ort, an dem verschiedene Interessen, Gruppierungen und Meinungen aufeinandertreffen. Doch die Staatsform Venedigs ist seit dem späten Mittelalter darauf ausgelegt, ebendiese Unterschiede zu nivellieren: durch Räte und Behörden, deren Kompetenzen sich überlappen und die sich gegenseitig überwachen, durch permanente Wechsel von Personen und Positionen (den Dogen und die Prokuratoren von San Marco ausgenommen), durch Kleidung, einheitliche Sprache, Titellosigkeit etc. Das Theater als kollektiver, heterotopischer Raum, der Konflikte und Differenzen visualisiert und in Handlungen entfaltet, bietet in dieser Zeit des Wandels den fiktionalen Freiraum, die bis dato undenkbare und unrepräsentierbare Möglichkeit der Parteiung für alle Akteure in der Stadt sichtbar zu machen und probeweise durchzuspielen.
Wegen der extremen Arbeitsbelastung 2022 durch das Amt des Dekans konnte das Projekt vorerst nicht weiterverfolgt werden.
Publikationen
- Barbara Kuhn und Robert Fajen: „La città dell’occhio“. Dimensioni del visivo nella pittura e letteratura veneziane del Settecento / „Die Stadt des Auges“. Dimensionen des Visuellen in der venezianischen Malerei und Literatur des 18. Jahrhunderts. Rom 2020, 457 S.