Säkularisierung – ein Kulturmuster der Aufklärung?
Projektleiter: Prof. Dr. Jörg Dierken
Laufzeit des Projekts: 2005-2020
Projektbeschreibung
Der Begriff der Säkularisierung gehört zu den Schlüsselkonzepten zur Beschreibung des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft nach der Aufklärung. Danach hat sich die Rolle der Religion und ihrer institutionellen Repräsentanten in der Moderne dramatisch gegenüber vormodernen Zeiten geändert. Religion ist nicht mehr die nahezu allzuständige Instanz der Steuerung des Gemeinwesens. Mit der Aufklärung hat sie ihre Funktion, zentrale Quelle des Normativen zu sein und ein integratives Band für die Mitglieder der Gesellschaft zu bieten, eingebüßt. Der Rückgang ihrer Autorität ist unverkennbar. Gegenüber der Vernunft und ihren Autonomievorstellungen sowie gegenüber innerweltlich-rationalen Formen des Handelns in Politik, Wirtschaft und Kultur ist sie in die Defensive geraten. Gesellschaft und Kultur scheinen in der Moderne zunehmend säkular zu werden. Und die Religion, sofern sie nicht unkenntlich wird oder gar verschwindet, scheint teils ganz ins Weltliche und seine implizite Normativität einzugehen, teils sich in die Nischen und an die Ränder des sozialen Lebens zurückzuziehen. Säkularisierung wurde und wird vielfach als wesentliches Kulturmuster für die durch die Aufklärung entzauberte Moderne verstanden. In diesem Sinne wurde und wird der Begriff der Säkularisierung vielfach zur Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft nach der Aufklärung verwendet.
Allerdings ergeben sich eine Reihe offener Fragen. Phänomenal reibt sich die Diagnose eines permanenten Schwundes von Religion mit ihrer Wiederkehr, insbesondere in Gestalt von Fundamentalismen verschiedenster Art. Sie betreffen nicht nur die islamische Welt, sondern auch das Christentum und andere Religionen. Die Säkularität der Gesellschaft erweist sich als v. a. europäisches Phänomen, in anderen, durchaus stark modernisierten Gesellschaften sind religiöse Gruppen und Semantiken im öffentlichen Raum sehr stark vertreten. Auch gedanklich-konzeptuell sind mit dem Begriff der Säkularisierung erhebliche Probleme verbunden. Einerseits stellt er darauf ab, dass die Religion eine zunehmend ausdifferenzierte eigene Sphäre neben anderen Sphären des sozialen Lebens in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usw. wird. In dieser Sphäre gehe es nicht um Sekundäreffekte der Religion wie Moralbildung, soziale Integration usw., sondern Religion würde durch solche Säkularisierung gerade als Religion – in Gestalt von Glauben, Kult und Frömmigkeit – praktiziert und käme damit geradezu zu sich selbst.
Andererseits wird unter Säkularisierung verstanden, dass die vormals in sakrale Formen eingekleideten und kommunizierten Gehalte nunmehr in weltliche Muster überführt werden. Klassische Beispiele sind die soziale Aufwertung des Individuums als Säkularisierung der Gottunmittelbarkeit des Einzelnen oder das Konzept der Menschenrechte als innerweltlich-sakralisierende Umbesetzung der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Wesentliche Begriffe des Rechts und der Politik wurden als säkularisierte theologische Begriffe verstanden, etwa Souveränität, Macht oder Entscheidung. Zu den Paradoxien des Säkularisierungskonzepts gehört auch, dass die Rede von einer säkularen Gesellschaft auf die Religion als Kontrastfolie zurückgreifen muss, mithin das Religionsthema gerade im Negativ präsent bleibt. Das Forschungsprojekt erörtert die Leistungskraft, aber auch die Grenzen dieses Schlüsselkonzepts der Moderne nach der Aufklärung.
Veröffentlichungen aus dem Projekt
Jörg Dierken, Heilige Texte? Zum Verständnis von Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum - im Gespräch mi I. U. Dalferth, in: Eigenanspruch - Geltung - Rezeption. "Heilige Texte" in der Bibel, hg. v. Christoph Landmesser und Andreas Schüle, Leipzig 2023, S. 204–225.
Jörg Dierken, Eindeutigkeit und Ambivalenzen. Theologie und Digitalisierungsdiskurs, hg. zus. mit L. Charbonnier u. M. D. Krüger, Leipzig 2021, darin: Im Nachgang. Überlegungen zur Weiterarbeit, S. 32–337.
Jörg Dierken, Gott und Geld – oder: Ähnlichkeit im Widerstreit, in: Gott gebe Wachstum. Historische und systematische Studien zur protestantischen Wirtschaftsethik nach Max Weber, hg. v. Georg Neugebauer, Constantin Plaul und Florian Priesemuth, Berlin 2021, S. 221–238.